Prosa

Dem Himmel fern sind wir nur dann, 
wenn wir vergessen, die Hölle in uns zu löschen ...

Das stille Wasser

 

Manchmal, wenn ich so über alles nachdachte, meinte ich so etwas wie einen Fluch zu spüren der auf mir lastete, aber ich konnte mir einfach nicht erklären woher das Gefühl genau kam. Ich hatte mir mein Schicksal am Rande der Gesellschaft zu leben ja selbst ausgesucht und die vielen Teilschritte, die da hingeführt hatten, kannte ich nur zu genau. 

     Eigentlich fing das ganze schon in der Schule an, als man einfach nicht erkennen wollte, welche Fähigkeiten ich besaß. Die einfachen Rechenaufgaben in der Grundschule löste ich mit links und die ersten Jahre auf dem Gymnasium, in denen Algebra und Geometrie drankamen, waren auch kein Problem, im Gegenteil. Ich konnte alles besser und schneller als die anderen, in diesem Fach, aber in den anderen Fächern? Als ich dann nach der zweiten Runde die Zehnte verließ und meine Lehre als Schlosser begann ...   

     ... na ja, das ist lange her. 

     Nun sitze ich hier am Fluss mit meinen paar Habseligkeiten und habe Zeit über die Fehler der Vergangenheit nachzudenken und denke und denke, aber komme doch zu keinem Schluss, keinem Entschluss. Im Grunde muss ich mich ja nicht beschweren. Es läuft ganz prima zurzeit, ich bin mein eigener Herr und Meister, brauche mir von niemandem etwas sagen lassen und komme mit dem Leben so einigermaßen zurecht, ganz abgesehen davon, dass ich es endlich geschafft habe, das Trinken aufzugeben. Nur wenige Dinge sind es, die mir wirklich Sorgen bereiten. Die Angst krank zu werden, und die Angst vor der Kälte des Winters, und vor allen Dingen die Angst vor dem alt werden. Wenn das nicht wäre, könnte es eine Zeit so weiter gehen, so wie ich es jetzt getroffen hatte.

     Ich untersuchte wie immer die Mülltonnen auf dem Parkplatz des Supermarktes und sparte mir noch den Hinterhof bei den Laderampen und den Recyclinghof auf. 

     Es war schon erstaunlich was die Wegwerfgesellschaft unserer Tage nicht mehr gebrauchen konnte, aber ein Segen für mich. So konnte ich meinen täglichen Bedarf an Nahrung decken und die Gegenstände, die ich für meinen Haushalt brauchte, fand ich auch immer wieder. 

     Natürlich durfte mich keiner entdecken, das hätte das Ende bedeutet. Aber Gott sei Dank gab es hier in der Gegend keine Kinder, die draußen spielten und die Gegend erkundeten, ja und die Kunden des Supermarktes kamen mit dem Wagen, stiegen aus und schon bald wieder ein, so war die Chance, dass man mich finden würde, gleich null. 

     Es war schon ein besonderes Örtchen was ich da entdeckt hatte und so mancher meiner früherer Kumpel hätte sicherlich gerne mit mir getauscht. Aber, dass ich hier wohnte, konnte ich bis heute gut geheim halten. 

     Gedankenversunken stöberte ich die Mülltonnen durch, aber es war nichts Vernünftiges zu finden. So entschloss ich mich, wie immer, zu meinem Loch im Zaun zu schleichen, um den Hinterhof des Supermarktes auf etwas Brauchbares zu durchsuchen. 

     Es war schon witzig wie mein Leben sich verändert hatte. Seitdem ich hier wohnte, war ich praktisch Vegetarier und ich merkte an meiner Haut, meiner Verdauung und an meinen Sinnen, dass es mir sehr guttat. Wenn sie etwas wegwarfen oder vorsichtshalber an die Seite stellten, war es Obst und Gemüse. Es hatte nur selten braune Stellen und es war auch nicht immer überreif, trotzdem wurde es von den kritischen Verbrauchern nicht mehr gekauft, aber es war deswegen noch lange nicht wirklich verdorben. So hatte ich mehr als nur einmal in der Woche einen reich gedeckten Tisch. 

     Ganz besonders gut schmeckten mir natürlich die Bananen. Dabei war es schon eine Ironie des Schicksals, dass ich sie schon als Kind besonders gern aß, wenn sie überreif waren. Damit hatte ich weiß Gott keine Probleme. 

     Ich kroch unter dem Zaun hindurch, sah mich um, duckte mich und schlüpfte aus dem Schatten der Papiercontainer und lief über den Hof, kam zur Rampe. Was hatte ich für ein Glück. Die Belegschaft, die am Abend die nicht mehr brauchbaren Sachen herausgeräumt hatte, bescherte mir wieder einmal alles was ich benötigte und es gab Nahrung im Überfluss. Ich konnte mich wirklich eindecken mit allem was ich gerne aß.

     Broccoli, Avocados, Tomaten, etwas Paprika und natürlich Bananen - alles war reichlich da. Ich konnte mir die besten Stücke aussuchen. Viel brauchte ich ja nicht und etwas auf Vorrat auszuwählen hatte ich auch nicht nötig, an Nachschub mangelte es bisher ja nicht. Also nahm ich nicht viel mit und das war auch gut so, denn ich wollte ja nicht entdeckt werden. 

     Ich dankte jedes Mal dem Herrgott, an den ich zwar nicht glaubte, der mir aber in einer solchen Situation immer willkommen war, packte die Sachen zusammen und schlich wieder zurück. Vorsichtig kroch ich unter dem Zaun hindurch, duckte mich am Rande des Parkplatzes entlang, kletterte über die Mauer am Ende, dann die steile Böschung hinab, folgte dem Flusslauf ein Stückchen und schon war ich fast zu Hause. 

     Es war angenehm warm, eigentlich ungewöhnlich für die Osterzeit. Die Büsche und Bäume hatten ihre Knospen geöffnet und die Frühjahrsblumen zeigten schon die ersten Blüten in aller Pracht. Die Luft roch hier unten recht gut und es lag eine Aufbruchsstimmung in mir, wie ich sie selten gespürt hatte. Ich sah auf den Fluss und unter meine Brücke, ging dann neben dem Pfeiler das schmale Stück auf dem festgetretenen Boden entlang, kroch auf allen vieren die Steigung empor und war da.

     Wer auch immer diese Autobahnbrücke geplant hatte, er musste an mich gedacht haben. Die dreispurigen Fahrbahnen lagen links und rechts auf zwei mächtigen Pfeilern. In der Mitte hatten sie aber ein Loch gelassen, dass gerade groß genug war, um mir als kombiniertes Schlaf-, Wohn- und Esszimmer und als Küche zu dienen. 

     Das war natürlich Quatsch, denn groß war der Raum beim besten Willen nicht, aber ich stellte es mir so vor und hatte hier nach langer Zeit endlich ein Heim gefunden. 

     Das Beste war aber, dass sie die Elektroleitungen für die Beheizung der Fahrbahndecken und für die Beleuchtung hier unten verlegt hatten und da war ich natürlich clever genug den Strom anzuzapfen. So hatte ich wenigsten ein bescheidenes Licht, konnte ein wenig kochen. Als ich dann noch im letzten Herbst im Metallcontainer des Recyclinghofs die alte Elektroheizung fand und sie wieder in Gang bekam, und das ganze nach vorne mit Decken ein wenig abgehängt hatte war ich fein raus. So konnte ich die kältesten Winternächte viel besser überstehen als jemals zuvor. 

     Ja, dachte ich, so ist es und überlegte was als nächstes zu tun sei. Ich setze mich auf den alten Küchenstuhl, an meinen Esstisch, knipste die Lampe an, die ich so verdunkelt hatte, dass kein Licht nach draußen drang, packte meine Einkäufe auf den Tisch und besah in Ruhe was ich hatte. Der Broccoli sah noch ganz passabel aus. Gott sei Dank verpackten sie ihn nicht mehr in Plastik. Die Avocados waren schon ein wenig matschig – gingen aber noch, die Tomaten waren ohne Schimmel. Ich würde mir eine Suppe aus Ihnen kochen, und die Bananen, ja sie waren etwas matschig, wie in meiner Kindheit. Morgen konnte ich gut essen, das stand fest und es gab mir, wie immer, eine gewisse innere Ruhe. 

     Ich löschte das Licht, setzte mich auf das alte Drahtbett mit den fünf Wolldecken, die ich, im Laufe der Zeit, im Textilcontainer gefunden hatte, zog Schuhe und Hose aus, stieg in den Schlafsack und wollte mich gerade hinlegen, da hörte ich eine Stimme. 

     Ich schrak auf .... 

     War jemand hier? Und wenn, wer konnte das sein? 

     Ich atmete kaum …

     horchte ... 

     wartete ein Weilchen

     … es passierte nichts. 

     Ich dachte wohl geträumt zu haben, so wie es mir häufig nachts geschah, wenn ich von einem besonders lauten Geräusch geweckt wurde und wollte mich gerade wieder hinlegen, da hörte ich die Stimme wieder. 

     „Johannes“ rief sie. 

     Ich stutze und überlegte was ich tun soll. Nach einer Weile wagte ich ganz langsam und zögernd zu antworten:

     „Ist da wer?“, 

     doch ich hörte nichts. 

     Ich wartete eine Weile ... hörte nichts mehr und wollte schlafen, aber das war fürs Erste nicht machbar, denn ich war so aufgewühlt, dass ich kein Auge zu bekam, auf keinen Fall hätte schlafen können. 

     Ich grübelte was ich machen soll, zog meine Hose und Schuhe wieder an und ging aus dem Schutz meines „Raumes“ heraus, um nach dem Rechten zu sehen. 

     Vorsichtig spähte ich um die Ecke nach rechts in Richtung Supermarkt, aber dort war niemand zu sehen. 

     Dann sah ich nach links, in Richtung des Flusses, aber da war auch keiner zu sehen - und wie hätte er auch da sein können, denn von der Seite hätte man über das Wasser laufen, oder in einem Boot zu meinem Platz kommen müssen.

     Ich rieb meine Augen vor Verwunderung und überdachte meine Situation. Seit gut zwei Jahren war ich hier, niemand hatte sich bisher hierher verirrt. Der Supermarkt lag am Ende des Industriegebietes, in dem sich nachts niemand aufhielt. Einsehen konnte keiner meinen Platz von der Seite. Auf der anderen Seite der Autobahn gab es die Wiese, die ich zum Teil einsehen konnte und weit entfernter hinten gab es einen Laubwald. Aber auch von dort hatte man keinen wirklichen Einblick in mein Versteck. Auf der mir gegenüberliegenden Seite des etwa acht Meter breiten Flusses standen die Brückenpfeiler direkt im Wasser. Dort konnte niemand langlaufen. Schlussendlich blieb da noch die linke Hälfte meiner Flussseite, aber da ging das Wasser auch direkt bis an den Pfeiler. 

     Es gab also nur eine Möglichkeit zu mir zu kommen, und das war der Weg, den ich immer ging und wenn da keiner war, der mich hätte rufen können? 

     Ganz allmählich beruhigte ich mich. Dann kroch ich wieder hoch, zog die Schnur mit den Blechdosen, die ich mir als Alarmanlagegebaut hatte vor meinen Eingang und setzte mich wieder auf mein Bett. Erst da ging mir durch den Kopf, dass es ja vielleicht gar nicht eine feindliche Stimme war, die gerufen hatte, denn sie kannte ja meinen Namen. 

     Doch dieser Gedanke war seltsam. Er beruhigte und beunruhigte mich gleichzeitig, führte dazu, dass ich wieder grübeln musste. 

     Ich dachte noch eine Weile nach, zog dann wieder die Schuhe und die Hose aus, stieg in den Schlafsack und kuschelte mich zurecht. Komisch dachte ich nur noch, Du hast doch ganz deutlich deinen Namen gehört.

     ... und schlief ein. 

     Am nächsten Morgen wurde ich später als sonst von dem Verkehr des Tages geweckt. Durch den Vorfall war es spät geworden in der Nacht, und so hatte ich verschlafen, wenn man es so nennen kann. 

     Die Sonne stand schon so hoch, dass sie sich nur wenig im Wasser spiegelte, und ich machte mir wie üblich meinen Morgenkaffee. Gott sei Dank hatte sie am Supermarkt auch einen Wasserhahn, so konnte ich mir in meinem Kanister immer einen Vorrat für drei Tage holen. 

     Ich stellte das Wasser auf den Herd, rutschte zum Fluss runter, nach dem ich die Schnur mit den Blechdosen entfernt hatte, und wusch mir Gesicht und Hände. Jedes Mal, wenn ich das tat, freute ich mich darüber, dass die Kläranlage flussabwärts lag. Gott sei Dank wusste ich, dass das Wasser auch vorher nicht wirklich verschmutzt wurde, auch wenn es sehr sehr trüb aussah. Diesen Fortschritt der Neuzeit lernt man wirklich schätzen, wenn man so lebt wie ich. 

     Als ich wieder hochkam kochte das Wasser schon. Ich ließ es durch den Filter gleich in den großen Becher laufen, nahm den Zuckertopf, den ich nur selten benutze und wollte gerade einen Löffel voll nehmen, als ich einen zähen Widerstand in dem Topf spürte. Ich drehte den Topf etwas und wollte den Zucker zur Seite rieseln lassen, aber das ging nicht, er war feucht und zäh geworden, was niemals vorher geschehen war, und so war er zu einer klebrigen Masse am Boden geworden was mich fürchterlich abstieß. 

     Ich schüttelte mich. Mir war komisch und ekelig zu mute. So etwas war mir noch nie passiert und so etwas hatte ich auch noch nicht gehabt. 

     Angewidert stellte ich den Topf weg und während ich so vor mich hin sinnierte, fiel mir auf einmal wieder die Stimme der letzten Nacht ein. Es beschlich mich ein noch seltsameres Gefühl der Unruhe als in der letzten Nacht. 

     Hatte jemand mein Zuhause besucht und sich an meinen Sachen vergriffen? Hatte diese Person in meinen Sachen gewühlt? Hatte jemand Wasser in den Zuckertopf getan? Kannte mich jemand, den ich nicht kannte? Wollte mich jemand durcheinanderbringen, um mich aus meinem Versteck zu vertreiben? 

     Ich stellte den Zuckertopf zurück, trank meinen Kaffee ohne Zucker und fasste den für mich ungewöhnlichen Entschluss, mein Versteck den ganzen Tag zu verlassen, um mich auf die Lauer zu legen und zu kontrollieren, ob eventuell jemand Fremdes kommen würde.

     Schnell räumte ich meine Sachen zusammen, nahm die Bananen, füllte mir etwas Wasser in eine kleine Flasche und verließ mein Zuhause. Ich schlich mehr recht als schlecht und ziemlich eilig das Stück am unteren Rand der Böschung und unterhalb der Mauer des Supermarktes entlang und kam nach kurzer Zeit zu den Büschen, die ich von meinem Eingang aus gut sehen konnte. Hier hatte ich Sichtschutz und gerade noch den Überblick über meine „Höhle“. Ich richtete mich ein, machte es mir richtig gehend bequem und kam zur Ruhe ... 

     Es war ein interessanter Anblick von hier. Das Wasser stand fast still, die Sonne spiegelte sich darin, Insekten tanzten oder ließen sich im Gras nieder um dann wieder aufzusteigen und fort zu fliegen oder wieder über dem Wasser zu schweben. 

     Was wäre, wenn ich auch fortfliegen könnte, dachte ich und wohin würde ich fliegen?

     Immer wieder gingen die Gedanken hin und her und irgendwann kam ich zurück in meine Wirklichkeit. „Eigentlich ist es hier gar nicht so schlecht“, ging es mir durch den Kopf: „Wenn nur nicht der endlose Lärm der Autobahn seinen Teppich über alles legen würde.“ Die Lärmschutzwände brachten zwar eine ganze Menge Linderung, aber der Verkehr war einfach zu intensiv und etwas anderes spielte da natürlich auch noch mit. Die Straße war durch die Wälle und Wände natürlich unüberwindbar geworden. 

     Während ich so in die Gegend schaute, wurde ich langsam müde. Es passierte ja auch nichts … und so fing ich wieder an zu träumen. 

     Ich sah meine Frau und meine Kinder, die ich durch mein falsches Verhalten verloren hatte, ich sah meine Eltern, die schon verstorben waren und denen ich für Ihre Missachtung meiner Gefühle immer noch Hass entgegenbrachte und ich sah mich, der eigentlich ganz groß herauskommen wollte, wie ich immer wieder an mir und an anderen gescheitert war, weil ich einfach nicht die Füße voreinander setzte, sondern immer gleich zwei Schritte auf einmal machen wollte. Was hatte ich nicht alles angefangen und nach kurzer Zeit wieder hingeschmissen. Wie oft hatte ich versprochen nicht zu trinken und war nach wenigen Tagen wieder rückfällig geworden. Wie häufig hatte ich große Pläne im Sinn, alles heil zu machen und wie häufig hatte ich statt dessen die kleinen und großen Übel angezogen oder selbst verursacht. Wie häufig hatte ich das, was andere mühsam aufgebaut hatten, mit einem Federstrich zerstört. 

     Jetzt lebte ich am Rande der Gesellschaft von dem was übrig blieb und was war mir geblieben? Was war von mir übrig? 

     Ich musste wieder an den Zuckertopf denken, erschauderte und kam wieder zurück auf den Urgrund, warum ich hier überhaupt auf meinem Beobachtungsposten saß. 

     Die Zeit stand still wie der Fluss, es passierte nichts, niemand kam. 

     Ich wartete und wartete und wartete ... 

     Als die Sonne sich dem Nachmittag zuneigte und immer noch niemand da war, entschloss ich mich die Bananen zu essen. Ich nahm dazu einen Schluck Wasser und wartete weiter - doch es passierte nichts. 

     Langsam quälend ging die Sonne ihren Gang, der Verkehr wurde noch einmal lauter, ich hörte wie die letzten Wagen vom Supermarktparkplatz wegfuhren. 

     Schließlich schlich ich zurück nach dem die Sonne untergegangen war. 

     In meinem Zimmer war alles so wie ich es verlassen hatte. Da ich mittlerweile richtig Hunger hatte, setzte ich Wasser auf, schnitt die Tomaten und den Broccoli klein, nach dem ich beides gewaschen hatte und fing an zu kochen. Nach dem Essen nahm ich die Avocado als Nachtisch und griff dann eine der Zeitungen, die ich immer in Menge in den Papierkörben fand. So war ich wenigsten etwas informiert, was draußen los war. 

     Dann machte ich mich wieder zur Nacht fertig... . 

     Mir war komisch zu Mute. Erstens wegen des Erlebnisses die Nacht davor und zweitens wegen des Zuckertopfes. 

     Ich befestigte wieder meine Alarmleine, legte mich ins Bett und konnte natürlich wieder nicht einschlafen. 

     Der Strom der Fahrzeuge rauschte über meinen Kopf hinweg und jeder LKW drang mir direkt ins Gehirn wie eine Marter. So hatte ich meine Situation noch nie zuvor erlebt. Ich versuchte alles Mögliche um einzuschlafen, führte mit meinem Inneren Selbstgespräche, aber es wollte und wollte mir einfach nicht gelingen. Langsam wurde es stiller und stiller. 

     Es mussten schon Stunden vergangen sein und die Nacht nahm einfach kein Ende. Schlussendlich fasste ich den Entschluss wieder aufzustehen, um noch etwas zu essen. Während ich mich anzog, hörte ich plötzlich, übermüdet wie ich war, wie in der Nacht zuvor, eine Stimme. 

     Ich horchte ... und tatsächlich ...

     „Johannes“ 

     Ich schrak hoch, noch erregter als die Nacht zuvor, stellte mich hin, ging nach vorn und sah vorsichtig nach links und rechts in die Nacht hinein.

     „Ist da wer?“

     fragte ich – und ... 

     „Ja, ich bin es“, 

     antworte es. 

     Ich horchte und überlegte woher die Stimme kam, hatte das Gefühl, von links. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich die Stimme irgendwoher kannte, aber mir fiel niemand dazu ein. Vorsichtig sagte ich:

     „Was heißt hier, ich bin es?“

     und sofort erhielt ich zur Antwort:

     „Na eben ich“

     Ich stutzte und überlegte was ich sagen sollte, versuchte mir einen Reim aus der Situation zu machen. Ich spähte angestrengt nach Links in die Nacht, sah aber kein Boot auf dem Wasser woher die Stimme hätte kommen können. War da also jemand hinter dem Brückenpfeiler an der anderen Seite der Autobahn, aber an der Seite meines Ufers? Dann dachte ich. Die Stimme kennt meinen Namen, aber will den ihren nicht preisgeben. Also fragte ich noch einmal.

     „Wer bist Du?“ 

     und ... es kam ein leicht verärgertes:

     „Das habe ich Dir doch schon zweimal gesagt. Ich bin ich, so wie Du du bist... Genug davon!“ 

     Ich stutzte. 

     Was sollte ich tun? 

     Ein Katz und Maus Spiel hatte ich nicht vor und mich mit jemandem zu unterhalten, der mich kannte, den ich aber offensichtlich nicht kannte, und sich nicht zeigen wollte, dazu hatte ich weis Gott keine Lust mitten in der Nacht. 

     Da hörte ich wieder:

     „Johannes!“

     Da es mir langsam zu bunt wurde, das ganze aber auch sehr geheimnisvoll war, dachte ich mir; nun gut, dann machst Du das Spiel eben mit und fragte:

     „Ich, was willst du“

     Stille.

     

     Plötzlich wurde mir bewusst, was ich gesagt hatte. 

     Ich, was willst Du? 

            - und mir ging durch den Kopf, was das für ein eigenartiger Satz aus meinem Mund war ...

     ... was wollte ich eigentlich? 

     ... was wollte eigentlich mein Ich

          Während ich so nachdachte und mich mit einer für mich vollkommen neuen Frage auseinandergesetzt fühlte, sprach die Stimme wieder.

     „Johannes, denkst Du über Dich nach?“

     „Ja“

     sagte ich ärgerlich,

     „Ich denke nach“

     „Gut“

     sagte die Stimme, die sich als Ich ausgab, 

     „Dann sind wir schon ein großes Stück weiter!“

     Ich stutze wieder und musste mit der Situation erst einmal klarkommen. 

     Nach einiger Zeit ging mir durch den Kopf, dass ich entweder eine Halluzination hatte oder dass dort auf der anderen Seite wirklich jemand war, der mich kannte. Und so stellte ich die Frage.

     „Sag mal Ich, was machst Du da auf der anderen Seite“

     „Ich bin hier, weil es mir hier besser gefällt als in Deiner Welt, die wie in Deinem Zuckertopf der Zucker nicht mehr leicht und fließend ist.“

     „Was meinst Du damit?“ 

     fragte ich aufgeregt und sofort erhielt ich wieder eine Antwort.

     „Ich meine damit das, was Dir heute passiert ist. Du hast den ganzen Tag damit verbracht jemanden zu überführen, der Dir in Deiner Fantasie angeblich Deine Werte zerstört und Du hast einen Tag Deines Lebens mit sinnlosem Warten verbracht ..., ist das keine Welt, die schwer und zäh ist?“

     Ich musste schlucken, war völlig überrascht, fühlte mich bloßgestellt! 

     Da sagte die Stimme,

     „Du brauchst nicht überrascht zu sein, ich kenne Dich, Du kannst vor mir nichts verbergen“

     Ich musste mich setzen, holte mir meinen Stuhl mit langem Arm.

     „Ja,“

     sagte die Stimme wieder,

     „Setzt Dich ruhig hin ..., Du bist überrascht, nicht wahr, aber das nützt dir alles nichts. Du wirst Dir überlegen müssen, ob Du so weiter machen willst wie bisher und all Deine Hoffnungen und Wünsche dem Sonnenlicht entziehst und vor Dich hinvegetierst, oder ob Du Deine Kraft, Deine Dir innewohnende Macht und Deinen Mut zusammennimmst und zu mir kommst“

     Ich war sprachlos, doch schon ging es weiter.

     „Du weißt, dass ich hier bin, auf der anderen Seite, und Du weißt, dass Du keine andere Chance hast, als mich kennen zu lernen! Also nehme Deinen Mut zusammen und komm endlich rüber!“

     Ich war völlig baff, aber auch - vollkommen neugierig. 

     Schon ewig lange hatte ich mich nicht unterhalten und der Tag, den ich mit endlosem Warten verbracht hatte, hatte mir gezeigt, wie einsam ich im Grunde war. 

     Gut, so konnte mir keiner Vorschriften machen, so konnte ich in meiner Einzigartigkeit und in meinem Schmerz, in dem ich lebte, bleiben, ohne dass dieser zerstört wurde, aber wie weit war ich damit gekommen? 

     Ich überlegte .... 

     Wie oft hatte ich daran gedacht, die Landschaft auf der anderen Seite der Brücke einmal zu erkunden und den Fluss hinaufzugehen. Wie häufig wollte ich es schon tun, aber wie sollte ich es anstellen. Das Wasser im Fluss war tief und stand durch das Wehr, das einige hundert Meter Fluss abwärts gebaut war, immer auf gleichmäßiger Höhe. Die Wände der Brückenpfeiler waren glatt, schwimmen konnte ich nicht und ein Boot hatte ich nicht. Oben über die Brücke konnte ich auch nicht gelangen, wegen des Verkehrs, und vor allen Dingen wegen der Schallschutzwände. Ich überlegte lange, und suchte einen Ausweg, da hörte ich die Stimme wieder:

     „Na, suchst Du einen Weg, wie Du zu mir kommen kannst?“

     „Ja, aber ich finde keinen“.

     „Es ist doch ganz einfach, Du musst einfach nur über das Wasser laufen, hab Vertrauen zu Dir selbst“.

     Puh, dachte ich, 

     jetzt wird’s hier komisch, doch im nächsten Moment hörte ich wieder die Stimme, sie sagte:

     „Johannes, ich bin doch hier, auf der anderen Seite, hab doch Vertrauen und Du wirst sehen, es geht“. 

     Ich schluckte, war aber gebannt von der Stimme und überlegte, dass sich meine Situation nie verändern würde, wenn ich der Stimme nicht folge. 

     Zurück konnte ich nicht. Ich konnte zwar die Erinnerungen mit mir nehmen, aber nicht das alte Leben wieder aufnehmen. Hier auf ewig bis zu meinem Tod zu bleiben, wollte ich nicht und wenn man mich hier aufspüren und finden würde ... 

     ...wer weiß was dann käme?

     Also warum nicht etwas Verrücktes tun und einer Stimme, die sich als Ich ausgibt, folgen und ... 

     Ich stand auf, rutschte zum Wasser runter, stellte mich hin und sagte:

     „Ich, hilf mir, wohin soll ich meinen Fuß setzen?“

     Es entstand ein Moment der Stille, ich wartete gebannt was passieren würde, da hörte ich ganz leise ...

     „Schließe die Augen, bleibe ganz bei Dir und höre dabei auf mich. Stütze Dich mit der linken Hand an der Wand ab und setze Deinen rechten Fuß einen kleinen Schritt nach vorn, aber setze ihn ganz langsam auf!“

     Ich tat mit geschlossenen Augen das, was die Stimme mir sagte, konzentrierte mich und   ... spürte einen Widerstand unter meinem Fuß auf Höhe des Wassers. Ich verlagerte das Gewicht und tatsächlich - es trug mich.

     „Gut so“ 

     sagte die Stimme, 

     „Nun hebe den linken Fuß vom Boden und setze ihn genau wie Du es eben mit dem rechten Fuß gemacht hast vorsichtig aufs Wasser!“

     Ich folgte der Stimme aufmerksam. Es klappte genau wie vorher. Ich hatte, warum auch immer, festen Boden unter beiden Füßen, und dann ging es wie von selbst. Ich setze einen Fuß behutsam vor den anderen und hangelte mich gleichzeitig mit den Händen an der Pfeilerwand entlang. 

     Als ich spürte, dass der Pfeiler zu Ende war sagte ich:

     „Was soll ich jetzt tun“,

     aber ich bekam keine Antwort. 

    Ich wartete eine Weile und als die Zeit mir zu lang wurde, öffnete ich die Augen. 

     Ich sah nach unten und war vollkommen verblüfft. Ich stand doch tatsächlich auf Steinen, die in dem bräunlich-grünen Wasser, nur knapp unter der Wasseroberfläche nicht zu sehen gewesen waren. An diese Möglichkeit hatte ich nie gedacht und wegen des gleichmäßigen Wasserspiegels hatte sich ja auch nie etwas verändert. 

     Ich machte einen Satz und war am anderen Ufer. 

     Erschöpft sah ich mich um, aber niemand war da. Ich hob meinen Blick und sah zum ersten Mal die Landschaft, von der ich vorher nur einen Ausschnitt erblickt hatte. Es war wunderschön was ich da in der ersten Morgendämmerung wahrnahm. Es gab saftige Wiesen durch die sich der Fluss, der jetzt meiner war, schlängelte. Kleine Wäldchen und einen Feldweg gab es, der keine hundert Meter weiter anfing. Alles sah einladend aus und ich konnte sehen, wie die Sonne am Horizont aufstieg ...

Gebr0chen und geschliffen

 

Er hatte eigentlich immer gedacht, dass es ihm egal ist, aber im Laufe der Zeit hatte er gemerkt, dass es doch anders war. Gleichgültig war es ihm nun wirklich nicht, was ihm geschehen war, auch wenn er nichts ändern konnte. 

Lange war er schon hier und sehr lange war es her, dass man ihn gebrochen, beschnitten, geschliffen und poliert hatte. Als das geschah hatte er noch gedacht, wie wunderbar, man macht aus mir etwas Anderes als das Einfache, was ich bisher bin! Man macht aus mir etwas Besonderes, etwas mir noch Unbekanntes, etwas Großartiges, etwas Neues und ganz Einzigartiges. Ja, das war lange her und wie war es wirklich gekommen?

Damals, als es passierte, stand ihm die Welt, so hatte er gedacht, offen, denn dort wo er herkam wanderte man aus. Weit ging es übers Land, in die Ferne, über die See in neue Gefilde. Viel wurde damals darüber gesprochen, was alles aus einem werden konnte, welche Möglichkeiten offen standen bis in die höchsten Kreise vorzudringen, einen Platz zu finden, vielleicht an der Sonne, vielleicht aber auch an einem ganz besonderen, einem geschützten Ort, an dem man nicht so sehr den äußeren Umständen ausgesetzt ist, an dem man nicht schnell alter und beschützt wird. 

     Nun, das war lange her, dachte er wehmütig. Er hatte schon seit langem seinen Platz hier.

     Zuerst war es ja schön. Grandioser hätte die Stelle nicht sein können, an die es ihn verschlagen hatte. Aber dann merkte er im Laufe der Zeit doch, dass das, was er hier erleben konnte, eintönig war. Immer wieder das Gleiche. Tausende von Menschen wöchentlich, denen er kurz begegnete. Immer wieder die gleichen Rituale, immer wieder die gleichen Weisen, endlos, weit und leer. Und dann die Nächte. Ohne Wärme, ohne zärtliche Berührungen und ohne ein Streicheln, wie es ihm vielleicht geschehen wäre, wenn er an einen intimeren Ort gekommen wäre - als hier her. 

            Ja, es war schwer. Aber er hatte seine Aufgabe. Er hatte etwas zu halten, ein Versprechen, etwas ganz Besonderes und das hatte ihn getröstet in all den einsamen Stunden. 

            Oft hatte er sich gefragt was wohl aus ihm hätte werden können, wenn er woanders hingekommen wäre, oder eine andere Form - einen anderen Schliff - bekommen hätte. Wäre dann alles anders als heute? Hätte er etwas anderes als diese sich hinschleppende Sinnentleerung gefühlt?

     Er stöhnte leise. Nein, egal war ihm sein Leben nicht; im Gegenteil! 

     Irgendetwas fehlt! Irgendetwas, das mir meine wahre Bestimmung gibt. Gut, ich trage schwer, und doch ist es zu leicht, was man mir aufgeladen hat. Ich könnte größeres stützen, mehr, etwas Gewichtigeres, etwas Wichtigeres!

     War es wirklich seine Bestimmung hier zu sein? Oder hätte er woanders hinkommen können, eine andere Form haben können? War er wirklich ein wichtiger Baustein und hatte er wirklich seinen richtigen Platz in der Schöpfung, hier, an diesem Ort?

            Er dachte und dachte und es dauerte und dauerte, seine Erinnerung schwand und er verlor sich in der Endlosigkeit der Vergangenheit, als eines Tages etwas Seltsames geschah. 

            Erst hatte er sie gar nicht bemerkt, die junge Frau, als sie auf ihn zukam. Zielstrebig ging sie. Er traute seinen Augen kaum, sie kam dichter und dichter, dann verlangsamte sie ihren Schritt. Ganz sanft näherte sie sich ihm. Dann berührte sie ihn mit einer warmen Hand, die zärtlich über seine Außenseite strich. Liebevoll sah sie ihn an. 

„Na, Du weißer Stein, Du weiser Stein?“ sagte sie, „Erzähl mir, wo Du herkommst? 

Aus Carrara ... Ach, wie geht es Dir hier im Süden? Wann haben Sie Dich denn gebrochen und geschliffen?      

Was? Du hattest Deinen festen Platz und hättest für ewig einen Berg halten können, im Kreise Deiner Lieben? Du bist schon seit Jahrhunderten hier, einer unter vielen, um hier ein Bauwerk, groß wie ein Berg, doch im Inneren wie Du, gebrochen, geschliffen und poliert, zusammen zu halten? War das denn Deine wirkliche Bestimmung ... 

Ach, Du wärst lieber wieder in Carrara, an Deinem Platz, um selbst ein Berg zu sein?“

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